Martin Kesper

Die Qual nach der Wahl

Die Qual nach der Wahl

Da ich in diesem Jahr bei den Grünen eingetreten bin, um unseren lokalen Kandidaten aus Unna zu unterstützen, habe ich jetzt die Qual nach der Wahl: Ich bin aufgerufen über den Koalitionsvertrag abzustimmen. Nicht das ich mich besonders in der Partei engagiere und ich beteilige mich auch nicht an den öden Diskussionen auf den innerparteilichen Plattformen. Aber an dieser Abstimmung wollte ich teilnehmen. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als mich mit dem Koalitionsvertrag auseinanderzusetzen. Daher habe ich angefangen zu lesen. Und nicht lange durchgehalten. Der Vertrag ist einschläfernd und schrecklich vage, wobei der "idealerweise" auf 2030 vorgezogene Kohleausstieg (Seite 5) nur der Gipfel des Eisbergs ist.

Weil ich zu faul bin, alles zu lesen, und das auch nicht ohne Aufputschmittel durchhalten würde, habe ich etwas anderes ausprobiert: Die Suchfunktion meines Pdf-Readers.

Auf 127 Seiten kommt die Formulierung "Wir wollen" vor und zwar bis zu 6 mal pro Seite. "Wir werden" kommt auf 125 Seiten bis zu 8 mal vor. Demnach scheint das Verhältnis zwischen dem, was man erreichen möchte (und wahrscheinlich niemals umsetzten kann), und dem, was man machen will (von dem man auch nur einen Bruchteil erreichen wird), relativ ausgeglichen zu sein.

An dieser Stelle muss ich eingestehen, dass ich vorher noch nie einen Koalitionsvertrag gelesen habe. Ich vermute einfach, dass die alle so Wischi-Waschi sind.

Das Wort "Kultur" kommt immerhin 78 mal vor. "Klimaschutz" 49 mal. Damit sind zwei Themen, die mir am Herzen liegen, schon mal berücksichtigt.

Das Wort "Wohlstand" kommt immerhin 26 mal vor und fast immer in dem Zusammenhang, dass unser Wohlstand bedroht sei oder erhalten werden solle. Das ist Augenwischerei. Wir werden es nicht schaffen, das 1,5°-Ziel einzuhalten, wenn wir nicht auf Teile unseres Wohlstands verzichten. Jeder der das leugnet, verkennt einfach die Wirklichkeit.

Und noch schlimmer, an 11 Stellen wird von (Wirtschafts-)"Wachstum" gefaselt. Das Politiker noch in einem altertümlichen Wachstumsdenken gefangen sind ist nichts neues. Wahrscheinlich muss man froh darüber sein, dass das Wort nur 11 mal vorkommt. (An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf meine Buchempfehlung hinweisen.)

Wie ein weiteres Öffnen der Schere zwischen Arm und Reich verhindert werden soll, dazu habe ich nur wenig gefunden. Zwar wird an 14 Stellen das Wort Armut gebraucht, aber meist im Zusammenhang mit punktuellen Maßnahmen. Die Anhebung des Mindestlohnes ist sicher ein richtiger Schritt, aber deutlich zu wenig. "Vermögenssteuer" oder "-abgabe" kommt im Vertrag nicht vor. Wer mag das wohl verhindert haben?

Der Einfluss der FDP ist für meinen Geschmack an zu vielen Stellen zu stark zu bemerken. Die FDP ist zu einer populistisch-konsumistischen Partei verkommen. Herr Linder will das gerne unter dem Denkmantel des Schutzes der Bürgerrechte verstecken. Lieber Herr Lindner, "Freie Fahrt für freie Bürger" bedeutet nicht, das man in einer Dreckschleuder mit 300 km/h über die Autobahn rasen und dabei andere Menschen durch Unfall oder Abgase gefährden darf. Es bedeutet, dass ich als Bürger frei entscheiden darf wann ich mit welchem Verkehrsmittel zu meinem frei gewählten Ziel fahren darf, ohne dabei meine Mitbürger oder spätere Generationen zu gefährden. Rasen ist kein Grundrecht! Was sich aber statt dessen im Grundgesetzt findet ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit §2 (2). Ausserdem ist dort zu finden, dass "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" §14 (2). Schreiben Sie sich das mal hinter die Ohren. So, dass musste ich mal loswerden.

Und jetzt zurück zu Abstimmung. De facto habe ich die Wahl zwischen einer Regierung mit grüner Beteiligung, in der wahrscheinlich das eine oder andere für den Klimaschutz getan wird, aber auf keinen Fall genug. Oder ich stimme für ein Scheitern der Ampel, was wahrscheinlich zu einer großen Koalition unter Führung der SPD führen und weitere vier Jahre Stillstand bedeuten würde, die wir uns nicht leisten können. Pest oder Cholera. Die Pest dann also.

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